Rechnung offen
Roman
Sonstiges kartoniertes Buch
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Pressestimmen
"Am Ende will man alle beschützen und nie mehr verlassen - so sehr hat uns Inger-Maria Mahlke ihre Zwangsgemeinschaft ins Herz geschrieben.""Nun seziert die die Autorin mit messerscharfem Blick eine ganze Berliner Gesellschaft. Sie tut es mit einer Sprache, die selbst kleinste Gefühlsnuancen wie unter einem Mikroskop sichtbar werden lässt, und gewährt dabei immer neue verblüffende Einsichten in die Schönheit und Tragik unserer Existenz.""Inger-Maria Mahlke beschreibt in 'Rechnung offen' ein Berliner Zerfallsmoment. Präzise beleuchtet sie Einzelschicksale in einem Neuköllner Mietshaus - kurz vor dessen Abbruch. Das Buch ist grausam, trostlos und doch auch warmherzig.""Der verstörendste Roman der Saison.""Mahlke erzählt kaltherzig konsequent, wie die Figuren durch ihr prekäres Leben treiben. [...]. Mahlke führt ihre Figuren nicht zu einer geschlossenen Geschichte zusammen, sie springt zwischen ihnen hin und her, und das ist beim Lesen schwer unter Kontrolle zu bekommen - ein genialer Kniff, der den Leser genauso haltlos macht wie die Figuren. Innerhalb der chaotischen Struktur aber beschreibt Mahlke ihre Figuren pedantisch genau. Mit überbordenden Details versucht sie, sie zu fixieren und in ihrer Romanwelt zu verankern."»Es lohnt sich, das Buch zu lesen.«"Das alles könnte nur zu leicht im Klischee enden. Doch davon ist Inger-Maria Mahlkes Roman weit entfernt, dafür ist er zu eigenwillig und sperrig in der literarischen Gestaltung. Das Buch wirft uns die Bruchstücke dieser desperaten Lebenswelten hin. Es kommentiert nichts, ist frei von Sentimentalität und zudem hellsichtig und kalt in seinem Befund. Die Sprache bleibt klar und schnörkellos, die Linienführung fordernd, der Erzählfluss bewegt. Das Buch macht es einem nicht leicht: Gerade darin steckt seine subversive Kraft. 'Rechnung offen' ist die Abrechnung mit einer Zeit, die allzu schnell die Weichen stellt: einmal auf dem falschen Bahnsteig, mit der falschen Richtung im Kopf, und schon ist das Leben fast gelaufen."„Gerade die atmosphärische Schilderung ist eine Stärke von Mahlke. Das Stillstehen der Zeit, die unendliche Trägheit der Verhältnisse vor der Schließung von Tempelhof, hat sie hervorragend eingefangen. [...]Mahlke weiß, was sie tut.“Die Großstadt als Spiegel unseres Lebens: von Inger-Maria Mahlke - ausgezeichnet beim Bachmann-Wettbewerb
Leseproble
Freitag, 29. August Der Radfahrer schlug mit der flachen Hand auf die Windschutzscheibe. Theresa hörte ihren Atem, saß noch immer vorgebeugt, ihr Brustkorb, wenige Zentimeter vom Lenkrad entfernt, hatte sich nicht gerührt, seit sie das Bremspedal durchgetreten hatte. Einen Moment lang sah sie seine Handfläche, weiß gegen das Glas gepresst, die Linien und Falten rötlich. Sie startete den Motor erneut, drehte sich nicht um, wollte nicht wissen, ob Claas noch auf dem Bürgersteig vor der Praxis stand, ob er überhaupt so weit gucken konnte, bis zur Querstraße. Der Radfahrer hatte Vorfahrt gehabt. Sie war gegangen, wortlos. Hatte den beiden Sideboards, die die lange Seite des Behandlungszimmers einnahmen, hatte Claas und dem Polizeibeamten den Rücken zugedreht. Sich nicht umgewandt, als Claas ihr 'du musst mich fahren'   hinterherrief. War weitergegangen, die Sohlen ihrer Ballerinas quietschten auf dem Laminat, sie hatte die Füße hörbar aufgesetzt, zufrieden dem dumpfen Stampfen zugehört, das die Korridorwände zurückwarfen. Die Glastür am Eingang war gegen die Wand geschlagen, sie hatte sie mit dem Fuß aufgestoßen, den Autoschlüssel in ihrer Handtasche fest umklammert. Sie fuhr auf die Kreuzung, bog ab in Richtung Stadtautobahn. Sie war sicher gewesen, er hatte aufgehört. Hatte nach der Arbeit keine Paketmitteilungen mehr im Briefkasten gefunden. Keine weißen Styroporfasern vom Wohnzimmerteppich gesaugt, wenn Claas vor ihr nach Hause gekommen war. 'Was war drin?' Keine zusammengeknüllten und wieder glattgestrichenen Tageszeitungen aus Reutlingen oder Dresden im Altpapier liegen sehen. 'Wo drin?' Keine Noppenfolie mehr im Grüner-Punkt-Müllbehälter. 'In dem Paket.' Keine silberne Teekanne mehr im Schrank, in dem sie alte Übertöpfe aufbewahrte. Füller zwischen schwarzen Socken. 'War unfassbar günstig.' Die Einbrecher hatten die Sideboards geöffnet, mit einem Kuhfuß, der Beamte deutete auf die parallelen Schrammen im Holz. Die oberen Scharniere waren abgerissen, die Türen hingen schief, ließen Dreiecke frei, durch die sie in das Innere der Schränke sehen konnte, Akten, hatte sie gedacht, Patientenakten würde Claas dort aufbewahren. Eine Weile hatte sie sich bemüht, vor ihm zu Hause zu sein, hatte die Pakete bei den Nachbarn abgeholt, hinter den Abendkleidern in ihrem Schrank versteckt. Er brauchte zwei Wochen, um zu fragen. 'Hör auf', hatte sie gesagt. Eine Reihe identischer, weißer Hände, ausgestreckt und anmutig gespreizt im ersten Dreieck, fein gearbeitet aus Porzellan, die Fingerspitzen berührten gerade noch einen goldenen Ball. Die Figuren standen exakt hintereinander, so, als balancierten sie nicht im Holzfach einer psychotherapeutischen Praxis, sondern 1936 im Olympiastadion. Sie hatte die Pakete aus dem Versteck geholt, sie auf dem Esszimmertisch aufgereiht. 'Versprochen', Claas hatte eine Hand auf die Brusttasche seines Hemdes gelegt, zwei Finger erhoben. 'Sei nicht kindisch', hatte sie geantwortet, 'kauf einfach nichts mehr.' Mit gummibehandschuhten Fingern hatte der Beamte die Tür weiter zur Seite geschoben, die Kante hatte einen dunklen Strich in den Teppich gezeichnet. Elefanten waren sichtbar geworden, graue, weiße, braune, Stoßzähne und Rüssel in eine Richtung ausgerichtet, als warteten sie auf die Handbewegung eines Zirkusdompteurs, die ihnen befahl, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Sieben identische Kakadus zählte Theresa, alle mit einem Zweig im Schnabel. In einem anderen Dreieck standen nur Pferde. Claas deutete auf einen kleinen Hund, der mit einem Frosch spielte, 'ein Einzelstück', er blickte sie an, als erwarte er, dass sie lachen würde, lächeln zumindest. 'Was ist das?', der Polizist hatte sich an beide gewandt. 'Keine Ahnung', hatte Theresa geantwortet und sich umgedreht. 'Porzellan', hörte sie Claas sagen. Sie hatte in den Rückspiegel gesehen, ehe sie losfuhr, Claas hielt die Glastür am Empfang auf, hatte sie auf Schäden überprüft, die Wand dahinter betrachtet, wo der Türgriff gegengeschlagen war. Sie musst
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Autorenportrait
Inger-Maria Mahlke, geboren 1977 in Hamburg, wuchs in Lübeck auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete am Lehrstuhl für Kriminologie. Preisträgerin des 17. Open Mike 2009 sowie des ersten Debütpreises des HarbourFront-Literaturfestivals 2010 für ihren Roman 'Silberfischchen'. 2012 Ernst-Willner-Preis bei den 'Tagen der deutschsprachigen Literatur' in Klagenfurt für einen Auszug aus ihrem zweiten Roman 'Rechnung offen', der im Frühjahr 2013 im Berlin Verlag erschien, von Kritik und Lesern gefeiert und 2014 mit dem Karl-Arnold-Preis der Akademie der Künste und Wissenschaften von NRW ausgezeichnet wurde. Ihr neuer Roman 'Wie ihr wollt' wurde für die Shortlist des deutschen Buchpreises 2015 nominiert. Sie lebt in Berlin.

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